Niemals ohne

Wir wollen heute über das Gummi sprechen. Das Gummi verhindert ungewollte Keimbildung in geschlossenen Räumen. Es sorgt für Planungssicherheit, es verhindert Wildwuchs von Kleinstlebewesen, es macht das Leben kontrollierbarer, es ist ein wichtiges Utensil einer lustvollen Beschäftigung.

Die Rede ist vom Einmachgummi. Nicht zu verwechseln mit dem Anmachgummi.

Das Einmachgummi hat seine besten Zeiten hinter sich, seit die Menschheit das ganze Jahr über Papayas, Sternfrüchte und Spargel kaufen kann, seit im Februar geschmacksfreie, rötlich-grüne Biomasse-Kugeln unter dem Tarnnamen "frische Erdbeeren" in den Supermarktregalen liegen. Der Mensch hat sich dem Diktat der Saisonfrüchte entzogen – dies allerdings auf Kosten von Geschmack, Moral, Naturnähe und Vernunft.

Das Einmachen von Früchten war vor dem Siegeszug von Gefrierschrank, Vakuumversiegelung und Flugananas Alltag. Heute dagegen ist das Einmachen von Obst ein Luxusvorgang. Manufactum verkauft "gute, alte Einmachgläser" zu hohen, neuen Preisen, wie ja überhaupt die Arme-Leute-Beschäftigungen von einst (Spinnen, Einmachen, Schnitzen, Bier brauen) die Reiche-Leute-Beschäftigungen von heute sind. Während die armen Leute von heute nichts lieber tun, als das vermeintliche Leben reicher Leute zu simulieren, geben die reichen Leute viel Geld für die Utensilien der armen Leute von früher aus. Die einen kaufen sich Nidl-Marmelade für 49 Cent, die anderen kochen sich selbst Marmelade in hochwertigen Kupferkesseln, was früher nur die taten, die es mussten.

Worauf läuft das hinaus? Dass niemand so sein will, wie er ist. Aber ob die grünen Februar-Erdbeeren sich wohl fühlen als Obst-Simulation? Ob die Flugananas nicht vielleicht Heimweh hat? Ob es den kleinen süßen Nordseekrabben nicht viel zu heiß ist beim Pulen in Marokko?

Vielleicht sollten wir mal fragen.

(Imre Grimm)

Artikel aus dem Göttinger Tageblatt vom 20.05.2006