Die Geschichte einer Siedlerkastanie

von Fritz Loll / 1994


Wie ich zur Siedlerkastanie wurde

Ich bin ein Findelkind, keiner weiß so genau, wo ich herkomme. Eines Tages war ich geboren. Ich erwachte unter einem schützenden Dach in einer kleinen Fichtenschonung in dem Garten eines Siedlers am Flachskamp. Am Anfang war die Gefahr groß, dass ich von meinem Siedler wie Unkraut behandelt werden würde und dem samstäglichen Reinigungsrhythmus zu Opfer fallen und am Ende in der Mülltonne landen würde. Aber mein schöner Wuchs, meine Ausstrahlung -ja ich wußte mich zu präsentieren- gaben mir die Chance, mich zu bewähren.

Auch wenn ich kein Obstbaum bin, was bei Siedlern immer ein Vorteil ist, bekam ich bald meinen Freiraum, um mich im Garten weiter zu entfalten. Es lag wohl auch ein bißchen an meinen Vorfahren, die bei meinem Siedler in guter Erinnerung waren. Doch eines Tages, ich wurde immer größer, stellte sich erneut die Frage: "Wo soll ich bleiben"? Ich hatte immer noch kein festes Zuhause. Inmitten der Tannen war kein Platz. In meinem Siedler hatte ich immer noch keinen Mentor gefunden. Die Laune eines Wochendendes jedoch verhalf mir zu einem neuen, gleichberechtigten Platz im Garten zwischen Birken, Tannen, Flieder, Kiefern, Lärchen, Essigbaum und Dahlien. Nun strengte ich mich besonders an, schön verzweigt zu wachsen und ein stattliches Bild für meinen Siedler abzugeben, so dass er meinetwegen bald auch von seinen Nachbarn gelobt wurde. Aber auch diese schöe Zeit ging leider bald zu Ende; denn ein Siedlergarten ist nunmal keine Kastanien-Allee oder ein freier Schulhof, in dem man sich nach Herzenslust ausbreiten kann und zur Freude der Kinder im Herbst seine schönen braunen Früchte in einer sicheren dornigen Schale abwerfen kann.

Es kam nun die Zeit, in der ich in die "rauhe Welt" der Öffentlichkeit umgesiedelt wurde. Mein Siedler dachte, wenn ich neu siedeln, mir eine neue Heimat schaffen kann, dann wird, was eine richtige Kastanie ist, ein strammer junger Kastanienbaum das auch können. Ich bekam meinen Platz am Rande des Garagenhofes, bei Kurbacher, Zeppenfeld, Mohwinkel, Baukloh, Radant und Wölk. "Rauhe Wiklichkeit" war manchmal noch gelinde ausgedrückt. Die vorbeigenden Siedler würdigten mich anfangs keines Blickes.

Selbst wenn ich dürstend zwischen scharfkantigen Pflastersteinen nach etwas Flüssigkeit meine Blätter hängen ließ. Die Kinder, meist aus Unwissenheit, streiften meine Blätter durch ihre Hände und merkten oft gar nicht, wie es mir dabei wehe tat. Die Hunde kamen auch damals schon und machten ihr Geschäft an meinem Stamm, so dass ich mich der Harnsäure erwehren mußte. Auch die Siedlerkinder wurden immer größer und mit ihnen wuchs der Übermut.

Einige hatten in der Schule schlecht aufgepasst oder nicht zugehört, wenn Frau Nischick oder Frau Rothe sagten: "Was Du nicht willst, dass man Dir tu, dass füg´ auch keinem anderen zu". So blieb es nicht aus, dass mir die ersten Äste abgebrochen wurden.

Aber wie oft im Leben, kam mir der Zufall zur Hilfe. Eines Tages hatte der Vorstand der Siedlergemeinschaft eine Radtour angesetzt, und der Treffpunkt zur Abfahrt war mein Garagenhof. Da ich mich inzwischen, trotz aller Hiebe, Stiche und Verletzungen nach dem Motto "immer den Kopft oben behalten" behauptet hatte, und einen guten Eindruck inmitten der Siedlung Flachskamp machte, bekam ich vom Vorsitzenden den Namen "Siedlerkastanie" und wurde in der Einladung zu dieser Radtour, ich glaube es war das Jahr 1984, zum erstenmal öffenlich erwähnt.

Von nun an stand mir eine gute Zukunft bevor; denn niemand wagte mehr, mich als gleichberechtigten Teil in der Siedlung zu gefährden. Ich war kräftig genug, um Gefahren von naturunfreundlichen Zeitgenossen, die vielleicht in Summe sogar zunehmen, zu widerstehen.

Wenn mir sogar große Äste abgebrochen wurden, halfen mir fast alle Siedler. Die einen legten einen Wundverband an, die anderen sorgten mit Wassergüssen für Linderung. Später sogar wude mir ein Drainagerohr gelegt, so dass auch meine äußeren Wurzeln im kargen Erdreich der versiegleten Oberfläche genügend Wasser bekamen. Diese besondere Tat verdanke ich dem Herrn Weber, der sich in 1992/93 zum Gartenfachwart ausbilden ließ und damit viele gute Taten in den Gärten der Flachskamp-Siedlung verbringen konnte.

Auch im Jahr 1994 verbeugte ich mich wieder vor der Kommission, die im Namen des DSB und der Stadt Lünen durch die Siedlung geht und den Zustand von Siedlung, Plätzen, Höfen und Gärten prüft, um die "Schönste Kleinsiedlung in Lünen " zu ermitteln.

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