Das Espelkamp Experiment

Hier mal der Bericht aus der Sonderausgabe des Spiegel, Geschichte Ausgabe 6/2023

Das Espelkamp-Experiment


Vertriebene aus den deutschen »Ostgebieten« haben nach 1945 mitten im Wald die Modellstadt Espelkamp aufgebaut. Seitdem kamen immer wieder Geflüchtete aus aller Welt. Kann der Ort Vorbild sein in den aktuellen Debatten über Migration?

Dieses »Santorini« ist einmalig. Am Eingang des Restaurants in der ostwestfälischen Kleinstadt Espelkamp steht unter den großen blauen Lettern »Santorini« der Zusatz: »im Sudetenland«.

Ein Grieche im Sudetenland, in einem lang gestreckten Flachbau, der einst zu einer Munitionsanstalt der Wehrmacht gehörte. Wie passt das zusammen?

Dimitrios Christou, Pächter des »Santorini im Sudetenland«, wird das oft gefragt. Es ist ihm selbst schleierhaft: »Was habe ich mit dem Sudetenland zu tun? Nichts.« Gerade ist er aus einem Urlaub in Griechenland zurückgekehrt, seinen Ärmel ziert eine griechische Fahne.

Das Ganze, sagt er, während auf seiner Terrasse an einem lauen Septemberabend vier Stammgäste lautstark über Ukrainekrieg und Grenzen der Zuwanderung streiten, sei die »dringende Bitte« des damaligen CDU-Bürgermeisters gewesen. Denn das »Santorini« hieß jahrzehntelang »Sudetenland«, in Erinnerung an sudetendeutsche Flüchtlinge aus der ehemaligen Tschechoslowakei, die nach Kriegsende zusammen mit anderen Vertriebenen nach Espelkamp strömten und dort in den Hallen der ehemaligen Munitionsanstalt Unterschlupf fanden. Also wurden die Gaststättennamen zusammengerührt.

Altes mit Neuem mischen - das ist ein typisches Rezept in Espelkamp, einem 26.000-Seelen-Ort nördlich von Bielefeld. Die am Reißbrett geplante Stadt wurde von deutschen Flüchtlingen aufgebaut - und hat seitdem oft überdurchschnittlich viele Migranten und Geflüchtete aufgenommen: Gastarbeiter, Russlanddeutsche, Balkanflüchtlinge, Afghaninnen, Syrer, Ukrainerinnen. Ein Pilotprojekt, eine Modellstadt mit einzigartiger Geschichte: Der Ort entstand im Oktober 1949 durch die Zusammenarbeit der evangelischen Kirche mit dem Land Nordrhein-Westfalen in einer »Aufbaugemeinschaft«, die bald Tausende Wohnungen schuf.

Lach Mal!
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Efeuumrankte Altbauten gibt es hier nicht: Die »Altstadt« hinter dem Rathaus ist keine 75 Jahre alt. Wer vom Bahnhof zum Zentrum läuft, kommt an Wohnblöcken und Sozialbauten in einem wilden Stilmix der vergangenen Jahrzehnte vorbei. Sie liegen verstreut inmitten großer Grünflächen mit vielen Kiefern und Eichen, fast wie im Wald. Und so hieß der Ort zunächst auch: Espelkamp-Mittwald.

Viele Häuser und Fensterläden sind knallig in Rot, Gelb, Grün oder Pink gestrichen, an Wänden prangen gute Vorsätze: »Mut« ist da etwa zu lesen, oder: »Willkommen in Espelkamp. Lach mal! Na, geht doch!« Der Optimismus trifft vielerorts auf Nostalgie. Straßenschilder erinnern an Danzig, Königsberg, Tannenberg, Liegnitz.

In der Breslauer Straße, der Einkaufsmeile der Stadt, dominieren zwar die Döner-, Burger- und Barbershops. Doch das Kunstwerk »Schmelztiegel« vor der Sparkasse erinnert an die ehemaligen deutschen Ostgebiete: Auf einem ostpreußischen Kurenkahn tummeln sich eine Fischersfrau aus einem pommerschen Märchen, der sagenumwobene Berggeist Rübezahl aus Schlesien und ein Pelikan; Anspielung auf den Sitz des Deutschen Ordens in der ostpreußischen Marienburg, wo ein Pelikan den Schlossbrunnen ziert.

Nicht weit davon gibt sich Espelkamp betont global - mit großer Weltkugel samt Entfernungsangaben für New York und Tokio. Internationale Firmen wie der Spielautomatenproduzent Gauselmann oder Harting, ein Hersteller elektronischer Bauteile, sind hier ansässig.

Nicht nur Opfer
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Wie unter einem Brennglas lassen sich in der Stadt Spuren deutscher Einwanderungsgeschichte und Flüchtlingspolitik studieren - und das auf wortwörtlich doppelt vermintem Terrain: Der Stadtkern befindet sich auf dem etwa 250 Hektar großen Gelände einer ehemaligen Munitionsanstalt des Heeres, kurz Muna. Versteckt im Wald produzierten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg hier Sprengstoffgranaten und lagerten Munition; eine Füllanlage für Giftgasmunition ging bis Kriegsende nicht mehr in Betrieb. Noch heute werden, wie zuletzt im September 2021, Blindgänger gefunden.

Vermint ist auch die Erinnerungspolitik: Seit 2020 schwelt in der Stadt ein Streit um Straßennamen. Denn mit den Vertriebenen kamen nicht nur heimatlose Kriegsopfer, wie man es anfangs gern darstellte, sondern auch Mitläufer, NS-Karrieristen, Kriegsverbrecher. Wie besonders Max Ilgner: Das einstige Vorstandmitglied der I.G. Farben stieg, obwohl in Nürnberg als Kriegsverbrecher zu drei Jahren Haft verurteilt, 1948 zum Chefplaner Espelkamps auf.

Etwa in dieser Zeit wuchs Heinrich Bajohr auf, einer der verbliebenen Zeitzeugen, die noch von den Anfängen der Stadt berichten können. Der Weg zu ihm führt vom Stadtzentrum weg über die lange Koloniestraße. Sie erinnert daran, dass die ersten Flüchtlinge in einem ehemaligen Lager für Kriegsgefangene landeten, die in der Muna als Zwangsarbeiter schuften mussten. »Kolonie« hieß die Siedlung bald, als Heimatlose und Ostvertriebene nach Unterkünften suchten.

Schwer Traumatisiert
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Bajohr ist ein hochgewachsener Mann mit angenehm modellierter Stimme, die wie gemacht wäre fürs Radio. Auf einem Tisch in seinem gepflegten Garten betrachtet er mit einer Lupe alte Fotos. Eins zeigt sein erstes Zuhause: eine längliche Holzbaracke am Rande eines halb verwüsteten Platzes, auf dem sich abgesägte Äste stapeln. Hastig eingebaute Zwischenwände trennten hellhörige Wohnungen voneinander ab. In einer verbrachte Bajohr seine ersten Lebensjahre, bis seine Eltern 1954 das Einfamilienhaus bauten, in dem er heute lebt.

»Es gab nichts, kein fließendes Wasser, keine Heizung, nichts«, erzählt Bajohr. »In unserer Küche hatten wir einen Drahtverhau, darin haben meine Eltern Hühnerküken großgezogen, weil es draußen zu kalt war. Auf dem Platz neben den Baracken wurden Ziegen und Schafe gehalten, dahinter wurden Mais, Tabak und Erbsen angepflanzt.« Das erste Weihnachtsgeschenk, an das er sich erinnert, symbolisiert den Mangel, den er aber damals nicht so empfunden hat: »Es waren ein ganz kleiner Hammer und eine Handvoll Haselnüsse.«

Sein Vater hieß wie er Heinrich, war Zimmermann und Tischler aus Ostpreußen. Als Erstes baute er der Familie ein Plumpsklo, das er auf die Wiese stellte. »Die Winter waren bitterkalt. Eine Firma Pampel aus der Umgebung stellte aus ehemaligen Geschosshülsen Holzöfen her. Alle liebten die Pampelöfen.« Sie spendeten Wärme in einer Zeit, in der die Erinnerung an die Heimat schmerzhaft war. »Meine Familie jammerte ihrem Fischerboot hinterher, den Verlust der Ostgebiete empfand sie aber als gerecht. Das sahen viele anders.«

Alle wollten was leisten
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Bajohrs Eltern stammten aus dem Dorf Karkeln nördlich von Königsberg. Sein Vater hatte im Krieg in Norwegen einen Kameraden, der aus Alt-Espelkamp kam, dem historischen Dorf außerhalb der Muna. Diese Freundschaft spülte ihn 1946 nach Espelkamp. Durch einen weiteren Zufall traf er im Emsland seine Jugendliebe Käthe wieder. Sie war inzwischen Kriegswitwe und schwer traumatisiert von ihrer dramatischen Flucht, bei der sie sich tagelang in einer Kirche vor den Russen verbarrikadiert und am Ende ihren verletzten Bruder Willi im dänischen Lager Oxböl verloren hatte.

An Weihnachten 1946 heirateten Käthe und Heinrich. Heinrich junior kam 1949 zur Welt, als Espelkamps Zukunft noch ungewiss war.

Ursprünglich sollte die Muna komplett gesprengt werden, als Teil des alliierten Plans zur Demilitarisierung Deutschlands. Dass es nicht dazu kam, ist dem Einsatz einiger Geistlicher zu verdanken: dem von Karl Pawlowski etwa, Leiter des Evangelischen Hilfswerks Westfalen, und des schwedischen Pastors Birger Forell, der in seiner Heimat ein »Komitee für christliche Nachkriegshilfe« gegründet hatte. In jahrelangen Verhandlungen mit den britischen Besatzern setzten sie die zivile Nutzung der alten Munitionshallen durch.

Horst Tappert in der Provinz

Zur karitativen Keimzelle wurde der Ludwig-Steil-Hof, benannt nach einem Mitglied der Bekennenden Kirche; Steil starb 1945 im KZ Dachau. Schon 1946 entstand hier ein Erholungsheim für Kinder aus dem zerbombten Ruhrgebiet. 1948 kamen mit dem schwedischen Roten Kreuz 150 deutsche Kinder aus Polen an den Steil-Hof; diese »Bromberger Kinder« waren in den Fluchtwirren von ihren Eltern getrennt worden oder Waisen geworden.

Bis zur endgültigen Freigabe des Muna-Geländes durch die Briten wurde zäh um widerstreitende Konzepte gerungen: Sollte das Gelände ein reines Zentrum der Diakonie bleiben? Oder sollte es sich für die Industrie öffnen dürfen, um die Not der Vertriebenen, die provisorisch in der »Kolonie« und einigen Muna-Hallen untergekommen waren, durch neue Arbeitsplätze aufzufangen? Am Ende setzte sich die zweite Idee durch, und Espelkamps Aufstieg begann.

Dafür verirrte sich auch Horst Tappert in die Provinz. Lange vor seinem Ruhm als »Derrick« spielte er in einem Imagefilm für Espelkamp von 1953 einen Fremden, der wegen einer Autopanne in Espelkamp strandet.

»Ärgerlich, in dem Nest einen ganzen Tag zu verlieren«, sagt er am Telefon, offenbar zu seiner Frau. Doch bald kommt er aus dem Staunen nicht heraus, als ihm die »Aufbaugemeinschaft« den Ort zeigt, in dem Wohnraum für 10.000 Menschen geplant wird, ein Freibad und Industrieunternehmen.

»Soll denn hier eine Stadt in den Wald gesetzt werden?«, fragt Tappert ungläubig. Dem Fremden wird erklärt, dass »rentablen Einzelbetrieben mit Krediten auf die Beine geholfen« werde, dass man hier alles »vom Teppich bis zum Hosenknopf« selbst herstelle. »Das ist ja beinahe wie im Film«, sagt Tappert beim Besuch einer Fabrik.

Georg Trümper kam als Auszubildener nach Espelkamp und erlebte in den 1950er Jahren den Aufschwung und Optimismus im Ort.

Vorurteile und anfeindungen nahmen zu
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Georg Trümper kam als Auszubildener nach Espelkamp und erlebte in den 1950er Jahren den Aufschwung und Optimismus im Ort. Foto: Maximilian Mann / DER SPIEGEL
»Ein Kultfilm«, sagt Georg Trümper, 87, auf seiner Terrasse am Rande eines Kiefernwäldchens. Trümper kam 1953 als Lehrling nach Espelkamp, zu einem der ersten Unternehmen, der Rosshaar-Spinnerei und Gummihaarfabrik Naue, kurz »Gummibude« genannt. Naue stellte Schaumgummi und Gummihaar her, unter anderem für die Auto- und Polstermöbelindustrie. Die Firma wurde einer der wichtigsten Arbeitgeber, zentral für den Aufschwung.

»Es war wirklich ein wenig wie in dem Film«, erinnert sich Trümper: »Es herrschte eine absolute Aufbaustimmung. Alle wollten was leisten und waren eifrig bemüht, etwas zu bewirken, ob nun große Firmen oder kleine Betriebe.« Auch das spätere Zusammenspiel zwischen den Heimatvertriebenen und den ersten Gastarbeitern habe sehr gut funktioniert.

Dass mancher Erfolg eine dunkle Vergangenheit hatte, interessierte damals nicht. Der Firmenchef Erich Naue war in der NS-Zeit maßgeblich an der Enteignung der Gummihaarfabrik Ebro in Berlin beteiligt, die von einer jüdischen Familie geführt worden war. Von dem Kapital zehrte er später in Espelkamp. Doch wie auch beim Chefplaner des Aufbaus, Max Ilgner, der nach seiner vorzeitigen Entlassung aus amerikanischer Haft in Espelkamp tätig wurde, wollte das damals niemand so genau wissen.

Die Stadt trug die Schichten der NS-Zeit ab, machte sie unsichtbar. Die Muna-Hallen wurden abgerissen oder umgestaltet. »Der Bauboom war wegen der Munition im Boden gefährlich. Da hat es mehrmals laut geknallt«, sagt Trümper. Rasch wandelte sich das Ortsbild. »Die zentrale Breslauer Straße war bei Regen anfangs immer eine Matschstraße, weshalb Espelkamp-Mittwald scherzhaft Espelkamp-Matschwald hieß«, erinnert er sich.

Bald waren die alten Trampelwege geteert. Die Aufbaugemeinschaft zog in Serie moderne Wohnungen hoch mit Sitzbadewanne samt Kohleofen für Warmwasser. »Traum vom besseren Leben« heißt ein Kunstwerk im Zentrum Espelkamps, das die Originaleinrichtung des Badezimmers der ersten Aufbau-Wohnung zeigt; 57 Jahre hatte die Mieterin in der historischen Wohnung gelebt, bis sie zu ihrem Tod.

Auch Georg Trümper zog es nie weg. Er heiratete, stieg bei Naue vom Industriekaufmann zum EDV-Verantwortlichen auf. Doch mit den Jahrzehnten habe sich etwas verändert in der Stadt, sagt er. »Der Zusammenhalt der Gründungszeit ist verloren gegangen.« Die Euphorie sei verflogen, die Integration teils gescheitert. Espelkamp sei »zu sehr Stadt« geworden, vielleicht Opfer des eigenen Erfolgs.

»Der Zusammenhalt der Gründungszeit ist verloren gegangen.«
Wann die Sache kippte, ist schwer zu ermitteln. Nicht wenige sehen den entscheidenden Impuls dafür in der Ankunft der Russlanddeutschen in den späten Achtzigerjahren und nach dem Zerfall der Sowjetunion. Insgesamt mehr als 4000 Spätaussiedler trafen auf eine Kernstadt, in der heute etwa 16.000 Einwohnern leben.

»Da entstanden schnell erste Feindbilder und Vorwürfe der Kungelei, als die Russlanddeutschen in Bussen vors Rathaus gefahren wurden«, erinnert sich Heinrich Bajohr an die Stimmung. Viele Spätaussiedler sprachen kein Deutsch und waren Angehörige der mennonitischen Freikirche, strenggläubig und mit konservativem Frauenbild. Die Aufregung über die Abschottung der Mennoniten nahm in jüngster Zeit noch zu, nachdem ihre Gemeinden über einen Trägerverein zwei Schulen erwarben, um den Unterricht nach ihren Vorstellungen zu gestalten.

»Als die Russlanddeutschen kamen, waren die Kapazitäten schnell erschöpft, und es gab keine Wohnungen mehr«, erinnert sich Claudia Armuth, die fast vier Jahrzehnte im Bundesprogramm Jugendmigrationsdienste in Espelkamp gearbeitet hat und seit einem Jahr im Ruhestand ist. »Die Stadt reagierte sehr, sehr schnell mit Notunterkünften. Doch solch ein wuchtiger Prozess mit einer Bevölkerung, die sich extrem schnell veränderte, hatte Auswirkungen.« Espelkamp war im Umland schon zuvor gern als »Klein-Moskau« beschimpft worden. »Die Vorurteile und Anfeindungen nahmen nun zu.«

Doch müsste die besondere Geschichte Espelkamps, die Migrationserfahrung so vieler Bürger nicht genau davor schützen?

Armuth glaubt: »Vielleicht gab und gibt es in Espelkamp mehr Verständnis und Solidarität - oder zumindest Toleranz.« Das habe sich nach Merkels »Wir schaffen das« 2015 gezeigt. Stadt und Freiwillige hätten »clevere Netzwerke« gegründet, so wie den Verein »MitMenschen«, der die ehrenamtlichen Aktivitäten bündelte und koordinierte.

Heinrich Bajohr sagt dagegen: »Es wird gerne so vermarktet, dass wir prädestiniert sind, Flüchtlinge aufzunehmen, weil wir ja eine Flüchtlingsstadt sind. Das ist Unsinn. Die Probleme der Integration sind hier genauso ausgeprägt wie anderswo.«

Wagenburgmentalität

Selbst aus dem Rathaus hört man solche Töne. »Es wäre kitschig zu behaupten, es gebe eine Espelkamper-DNA, die dazu führt, dass jeder jedem helfen möchte«, sagt Torsten Siemon, Sachgebietsleiter Kultur und Öffentlichkeitsarbeit. »Bei manchen Flüchtlingsgruppen erkennt man stattdessen oft eine gewisse Wagenburgmentalität und Angst vor Nachteilen durch weitere Neuankömmlinge.«

So hätten 2015 viele Russlanddeutsche die Syrer und Afghanen skeptisch beäugt. Diese wiederum waren später verwundert, wie unbürokratisch Ukrainer ankommen konnten. Die mennonitischen Gemeinden hingegen fühlten sich kulturell den aus der Ukraine Geflüchteten verbunden und nahmen viele auf.

Auf dem Ludwig-Steil-Hof, für viele die Keimzelle der Stadt, hängt im lichtdurchfluteten Atrium der Bischof-Hermann-Kunst-Schule eine große Schwarz-Weiß-Aufnahme von den »Bromberger Kindern«, jenen Nachkriegswaisen, die in den Fluchtwirren ihre Eltern verloren hatten. Ihr Beispiel hat Tradition geschaffen: Heute gibt es dort spezielle Auffangklassen für jugendliche Geflüchtete ohne Deutschkenntnisse. »Sie kommen hier oft völlig traumatisiert an«, sagt Schulleiter Dieter Gerecke. »Das Foto der Bromberger Kinder kann ihnen Halt geben, weil es zeigt: Sie sind mit ihrem Schicksal nicht allein. So etwas gab es hier schon immer.«

»Schwierig wie Chinesisch«

Ali Reza Hashimi kam 2016 an die Schule, nachdem er zusammen mit seinem Bruder aus Afghanistan geflohen war. Er lernte drei Jahre Deutsch, machte den Realschulabschluss, übernahm mit seinem Bruder 2019 den Ada Grill in der Breslauer Straße. Dann kam Corona. »Das war Pech, aber wir haben es geschafft«, sagt er lachend, während er einen Döner zubereitet. Das Deutsch, das ihm einst »so schwierig wie Chinesisch« vorkam, geht dem heute 24-Jährigen leicht über die Lippen. »Wir sind von Anfang an super aufgenommen worden hier. Espelkamp ist multikulti.«

In den Auffangklassen der Schule büffeln Ukrainerinnen, Syrer, Irakerinnen, Iraner, Afghaninnen und Schüler aus vielen anderen Staaten gemeinsam Deutsch. »Sie werden in einem speziellen Stufensystem systematisch an die deutsche Sprache herangeführt, damit sie sich langfristig gut integrieren können«, sagt Direktor Gerecke. Deshalb habe er schon viele Landespolitiker durchs Haus geführt. Ein Vorwurf komme trotzdem immer wieder, und der ärgert ihn: »Wenn hier acht Nationalitäten in einem Raum lernen, ist das für mich keine Ghettoisierung von Flüchtlingen. Gerne wird aber gefordert, man sollte sie sofort in gemischte Klassen mit Deutschen stecken.« Gerecke wirbt für mehr Geduld mit diesen »kleinen Menschen«, es brauche Zeit, um ihre Probleme und Talente zu erkennen.

Im Werbefilm von 1953 heißt es am Ende: »Der Wille zu helfen findet in Espelkamp immer einen Weg.«

Was wird aus dieser Tradition in einer Zeit, in der die AfD auch in einer Flüchtlingsstadt punkten kann? Bei der Landtagswahl 2022 holte die Partei in Espelkamp 11,3 Prozent; seit 2020 sitzen zwei Abgeordnete im Stadtrat. 2024 wird Espelkamp seinen 75. Jahrestag feiern, wie die Bundesrepublik. Im Rathaus hofft man, der Bundespräsident könne seinen Amtssitz für ein paar Tage in die Provinz verlegen und durch dieses offene Geschichtsbuch flanieren.

Eine Dr.-Max-Ilgner-Straße und einen Hindenburgring wird es dann immer noch geben. Der CDU-dominierte Stadtrat hat 2022 entschieden, keinen der insgesamt elf umstrittenen Straßennamen im Ort zu ändern, sondern mit Tafeln den Kontext zu erklären; ausführliche Gutachten eines Geschichtskreises hatten vier Umbenennungen empfohlen. Manche halten das Ringen um die historischen Straßennamen für eine Posse; die Stadt habe drängendere Probleme. Andere wünschen sich ein schon lange versprochenes »Haus der Geschichte« und klagen, die CDU habe immer zu viel Rücksicht genommen auf ihre treue und nostalgische Wählerklientel: Ostvertriebene und deren Nachkommen.

Es ist spät geworden im »Santorini«. Dimi, wie seine Stammgäste den Pächter rufen, bringt noch eine Runde Bier. Im Internet und auf Rechnungen heißt seine Gaststätte längst nur »Santorini«. Vielleicht, sagt er, wird es Zeit, das Sudetenland über dem Eingang zu entfernen. - amüsiert hier: Espelkamp-Mittwald, Nordrhein-Westfalen, Germany.

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