Hessisch Roulette - die Postleitzahl entscheidet

Ein Kommentar von Andreas Schneider, Sprecher der AG Straßenbeitragsfreies Hessen und Vorstandsmitglied im Verband Wohneigentum Hessen e. V.

Als eines der letzten Bundesländer sträubt sich Hessen gegen die landesweite Abschaffung der Straßenbeiträge. Der nachfolgende Beitrag schildert die Situation in Hessen aus Sicht der Bürgerinitiativen. Ich selbst bin Mitbegründer und einer der Sprecher der AG Straßenbeitragsfreies Hessen. Seit 2011 beschäftige ich mich mit dem Thema. Ich bin weder emotionslos noch neutral.

EIN BLICK ZURÜCK
Seit 1970 können in Hessen Straßenbeiträge erhoben werden. Etwas über 24.000 km Kommunalstraßen stehen in der Baulast der Kommunen, geschätzte 20 Prozent sind Zustandsklasse 4 oder schlechter. Hauptursache ist die unterlassene Instandhaltung seit Beginn der 90er Jahre. Der Hintergrund - mehr Aufgaben für Hessens Kommunen bei weniger Zuweisungen ab den 90ern. Die Landesregierung unter Rot-Grün verwies zu der Zeit gerne auf die noch wenig genutzte Einnahmequelle Straßenbeiträge. Insider berichten, dass z. B. Förderungen an die Bedingung geknüpft wurden, dass dafür Strabs einzuführen seien. Weitere Kommunen beschlossen dann "freiwillig gezwungen" und zumeist ohne öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen eine Beitragssatzung. Kommunalpolitik und Verwaltung waren sich des Konfliktpotentials bewusst und handelten dementsprechend vorsichtig. Es gab beruhigende, leider oft auch hohle Versprechungen an die aufgebrachten Bürger, wenn Straßenbeiträge erstmalig exekutiert wurden. Wir wissen von Beitragsbescheiden über 30.000 DM schon in den 90ern und einigen Fällen, in denen Betroffene ihr Haus verloren.

GESETZESÄNDERUNG (1) - NOVEMBER 2012
"Rein in die Kartoffeln"
Angesichts der Probleme beschloss der Landtag Ende 2012 die Möglichkeit zu wiederkehrenden Straßenbeiträgen als Erleichterung. Kommunen konnten nun zwischen Einmal- und wiederkehrender Beitragserhebung wählen, die "wiederkehrende" wurden aber von den Kommunen kaum angenommen. Wenig Beachtung fand zunächst eine andere kleine Änderung - statt "die Kommunen können" hieß es ab 2012 "die Kommunen sollen" Straßenbeiträge erheben. Im Klartext: Bei defizitärem Haushalt musste die Kommune eine Straßenbeitragssatzung erlassen. Verschärft wurde dies im März 2014 durch den Herbsterlass des Innenministers. Die Aufsichtsbehörden wurden angewiesen, bei defizitärem kommunalem Haushalt auf Erlass einer Straßenbeitragssatzung zu bestehen.

Seit 2017 Zusammenarbeit der Bürgerinitiativen
Nach Frust vielerorts über die örtliche Politik und Medienberichten über anstehende Beitragsbescheide von 60.000 Euro im Raum Wetzlar entstand im November 2017 die AG Straßenbeitragsfreies Hessen als Arbeitsgemeinschaft der Bürgerinitiativen. Es folgten Schlag auf Schlag erste Aktionen mit Kundgebungen, Podiumsdiskussionen, Messeauftritten und einer breiten Unterschriftensammlung für eine Petition an den Landtag. Großzügige Unterstützung und Förderung erfuhren wir vom Verband Wohneigentum Hessen.

GESETZESÄNDERUNG (2) - MAI 2018
"Raus aus den Kartoffeln"

Angesichts der anstehenden Landtagswahl entschloss sich die schwarz-grüne Regierungskoalition im Mai 2018 zu einer halbherzigen Änderung des Kommunalabgabengesetzes. Nach einer Mammutanhörung im Innenausschuss des Landtags mit vielen Bürgerinitiativen und Verbänden wie dem Verband Wohneigentum Hessen, dem VDGN und weiteren Experten wurde das Kommunalabgabengesetz "zurückgedreht". Also hieß es wieder "Kann" ("die Kommunen können Beiträge erheben") statt "Soll". Dazu eine großzügige Förderung für Kommunen, die die Einführung wiederkehrender Straßenbeiträge beschließen. Den Beitragspflichtigen wurde das Recht auf Ratenzahlung bis zu 20 Jahre zum Zinssatz von 1 Prozent über dem gültigen Basiszinssatz zugebilligt.
Kurz nach der Gesetzesänderung wurden die Beiträge in den ersten Kommunen abgeschafft. Hessen wurde zum Flickenteppich:
In Stadt A sind die Beiträge abgeschafft, niemand bezahlt Straßenbeiträge; im Nachbarort B hat man die Beitragssatzung beibehalten, angeblich könne man sich den Verzicht auf die Beiträge nicht leisten; im übernächsten Ort C hat man die Anliegeranteile reduziert und in der benachbarten Gemeinde D führt man gerade wiederkehrende Beiträge ein. So entscheidet die Postleitzahl, ob jemand zigtausend Euro als Straßenbeitrag zahlen muss - Hessisch Roulette!

"Der Staat wirkt auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land hin." lautet die 2018 beschlossene Verfassungsänderung (Artikel 26d). Ob das der schwarzgrünen Landesregierung schon mitgeteilt wurde? Für die Bürgerinitiativen war das Thema mit der halbherzigen Gesetzesänderung in 2018 nicht vom Tisch, denn die Landesregierung hatte lediglich den "Schwarzen Peter" den Kommunen zugeschoben.

DÉJÀ-VUS - ERNEUTE GESETZESINITIATIVEN 2019
Trotz mehr als 30 Prozent Stimmverlusten bei der CDU gab es bei der Landtagswahl eine hauchdünne schwarz-grüne Mehrheit. Im Januar 2019 waren die Straßenbeiträge schon wieder Thema im Landtag. Bei einer Mega-Anhörung im Mai 2019 empfahlen fast alle Experten, darunter diesmal selbst die Vertreter von zwei kommunalen Spitzenverbänden und zahlreiche Bügermeister(!), die Gesetzentwürfe zur Abschaffung der Beiträge anzunehmen und einen finanziellen Ausgleich von 60 Mio. Euro aus Landesmitteln zu beschließen.
Enttäuschend - CDU und GRÜNE ignorierten das eindeutige Ergebnis der Anhörung ebenso wie eine Petition mit fast 30.000 Unterschriften. In namentlicher Abstimmung lehnten sie die Gesetzentwürfe Ende September 2019 ab.

MB
© Martin Breidbach

WIE GEHT ES WEITER?
Heute (Stand Juli 2020) ist jede dritte Gemeinde (146 von 423) "straßenbeitragsfrei". Weitere Kommunen schaffen - teilweise rückwirkend - das tote Pferd Straßenbeitrag ab, darunter eine Reihe von Gemeinden mit wiederkehrenden Beiträgen. Zuletzt die Stadt Nidda, die seinerzeit als erste auf "wStrB" umstellte: 130.000 Euro Einnahmen zu 100.000 Euro Aufwand jährlich.
Trotzdem - manche Kommune sucht immer noch ihr Heil in wiederkehrenden Straßenbeiträgen, die selbst kommunale Spitzenverbände
als teuer und nicht rechtssicher kritisieren, aber Anwaltskanzleien und Kommunalberatern ein lukratives Geschäft bescheren.
Positiv - Entwicklungen wie im osthessischen Niederaula, wo das Gemeindeparlament zuletzt eine Rückzahlungssatzung beschloss. Da der Bürgermeister dagegen votiert, muss das noch vor Gericht verhandelt werden, doch das Beispiel Berlin 2012 zeigt, dass die Rückzahlung von Straßenbeiträgen möglich ist.
Erschreckend - trotz Corona Krise wurden mancherorts Beitrags- oder Vorausleistungsbescheide bis zu 40.000 Euro verschickt. Während die schwarz-grüne Koalition ein Sondervermögen über 12 Milliarden Euro zur Unterstützung von Wirtschaft und Kommunen verabschiedet, wird der Appell von Bürgerinitiativen und Verband Wohneigentum Hessen "Keine Straßenbeitragsbescheide in der Corona- Krise!" von Landesregierung und Regierungskoalition mit den bekannten Ausflüchten und Worthülsen abgebügelt - anscheinend haben 30 Prozent Stimmenverlust bei den letzten Wahlen nicht gereicht!
Im November 2020 werden zahlreiche Bürgermeisterwahlen nachgeholt, im Frühjahr 2021 stehen Kommunalwahlen an. Überall, wo noch an den Straßenbeiträgen festgehalten wird, lautet unser Motto "Kommunalwahl 2021 - Straßenbeiträge abwählen!"

PERSÖNLICHES FAZIT
(1) Straßenbeiträge sorgen vielerorts für Streit zwischen Kommunalpolitik, Verwaltung und Bürgern - die Konsequenz eines schlechten Kommunalabgabengesetzes.
(2) Nur mit lautstarkem Protest und Druck der BürgerInnen werden Straßenbeiträge vor Ort abgeschafft!
(3) Es gibt erfreulich viele kompetente und engagierte Kommunal- und Landespolitiker. Leider aber auch "Teflon-Politiker", die - warum auch immer - sogar namentlich einem Gesetz zustimmen, das Menschen und Familien ins Elend stürzt und Existenzen ruiniert. Und welche die Drecksarbeit - nämlich bis zu sechsstellige Beitragsbescheide – den ehrenamtlich tätigen Kommunalpolitikern überlassen.
(4) Mir tut es unendlich leid, wenn Mitstreiter trotz ihres Engagements noch von Beitragsbescheiden „erwischt“ werden. Dann ist es wichtig, einen starken Verband wie den Verband Wohneigentum im
Rücken zu haben, um notfalls sein Recht auch auf juristischem Weg durchzusetzen.
(5) Das Thema Straßenbeiträge ist hässlich. Schön ist, dass man dabei viele nette und hilfsbereite Leute kennenlernt!

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